Von oralen Abgründen und Erdbeermarmelade
Es ist 6:52 Uhr – nicht mehr lange bis zum Schichtwechsel also. Oder auch nicht... Der schrille Ton des Funkmeldeempfängers holt mich und meinen Kollegen aus dem Land der Träume. "Allergische Reaktion" heißt das Einsatzstichwort. Hmm, okay, mal sehen, was uns diesmal erwartet. Mit Blaulicht und Martinshorn geht es in eine nahe gelegene Ortschaft, der Notarzt befindet sich auch auf dem Weg dorthin. Wir betreten den Hof des Einfamilienhauses im Ortskern. Alles verrammelt – schaut irgendwie nicht so aus, als ob hier überhaupt schon jemand wach wäre. Na ja, egal. Wir klingeln. Nichts passiert. Wir klingeln nochmal. Und siehe da: Hinter einem verschlossenen Rolladen scheint sich ein Fenster zu öffnen. „Sind Sie der Doktor?“, ertönt eine Frauenstimme älteren Baujahres. Na ja, nicht ganz, der Doc befindet sich noch auf der Anfahrt, aber na ja. Also: "Ja, genau, wir sind vom Rettungsdienst." "Das ging aber schnell." - Ja, so ist das halt, wenn man den Rettungsdienst ruft. Sitzt die Frisur etwa noch nicht oder wie? Ist uns ja eigentlich auch egal – meine Haare ähneln gerade auch mehr einer überbeanspruchten Klobürste, so wie immer, wenn man mich nachts aus dem Bett holt. Aber nachdem weder sie noch wir gerade einen Schönheitspreis gewinnen müssen, tut das im Moment nichts zur Sache. "Dann kommen Sie mal rum an das andere Fenster. Ich mache da den Rolladen mal hoch." Das ist zumindest mal ein Anfang... "Sie müssten uns aber schonmal hereinlassen. Am Fenster können wir nicht viel für Sie tun." "Ja, das ist mir klar. Nur die Haustür ist abgeschlossen und das würde zu lange dauern, wenn ich sie aufsperre. Ich gebe ihnen mal meinen Schlüssel raus." Warum auch nicht... Kurze Zeit später empfängt uns die alte Dame, nennen wir sie Frau Bergmann, in ihrer Wohnküche. "Darf ich Ihnen etwas anbieten?" "Das ist sehr nett von Ihnen, aber wie können wir Ihnen denn helfen?" Frau Bergmann sperrt ohne Vorwarnung ihren Mund auf und greift kurzerhand zur Taschenlampe, um uns ihren "oralen Abgrund" zu beleuchten. Dabei streckt sie ihre Zunge weit nach draußen. Wüssten wir es nicht besser, könnten wir jetzt fälschlicherweise auf die Idee kommen, dass sie Heißhunger auf ihre Taschenlampe verspürt. "Che-en chie dach?" - also: "Sehen Sie das?" für alle, die es jetzt nicht verstanden haben. Und in der Tat: Wir sehen es. Ist ja auch kein Wunder, nachdem die gute alte Marken-Lampe ihr Zahnfleisch und die Dritten bis in den letzten Winkel ausleuchtet. Würde uns des Rätsels Lösung verborgen bleiben, müssten wir uns nun bei dieser perfekten Darbietung ernsthaft Gedanken machen, was wir am besten antworten würden, um nicht ganz so dumm dazustehen. Aber zum Glück offenbart sich uns das Problem ja sofort: Ihre Zunge ist leicht angeschwollen. Für ihre Begriffe natürlich sehr stark. Deshalb habe sie auch schon eine knappe Viertel (!!!) Flasche von den Allergietropfen, die ihr der Hausarzt mal aufgeschrieben hatte, getrunken. Respekt! Gewirkt haben die natürlich nicht. Wie auch, hatte sie doch unmittelbar nach dem köstlichen Trank zum Telefon gegriffen und sich einen Arzt bestellt. Also uns in diesem Fall. In der Zwischenzeit trifft auch unser Notarzt ein, der sich natürlich selbst – festlich beleuchtet – ein Bild ihres Schlunds machen darf. Sehr zu unserem Vergnügen natürlich, denn unser Kollege hat natürlich mit allem gerechnet, aber nicht damit, das so eindrucksvoll präsentiert zu bekommen. Professionell leitet unser Notarzt die nötigen Schritte ein und verabreicht ihr die entsprechende Medikation. Das selbst eingenommene Mittel stellt sich indes als wenig erfolgversprechend heraus, um es mal positiv auszudrücken. Danach ist auch wieder alles gut – zumindest aus Sicht der Dame. Dass sie uns ins Krankenhaus begleiten muss, scheint sie noch nicht verstanden zu haben. "Vielen herzlichen Dank! Mir geht’s schon viel besser. Tut mir leid, dass ich Ihnen solche Umstände gemacht habe. Wollen Sie mir nicht noch etwas Gesellschaft leisten?" Hmm, lass mich kurz überlegen ...Feierabend und noch eine Portion Schlaf wären auch nicht schlecht. Doch Frau Bergmann lässt uns keine Gelegenheit zum Nachdenken und trumpft weiter auf: "Ich habe auch Kaffee da, und selbstgemachte Erdbeermarmelade. Die ist ein Gedicht! Die müssen Sie unbedingt probieren!" Das klingt natürlich verlockend – und unsere Entscheidung steht da selbstverständlich sofort fest. Doch wer wagt als erster den Schritt? Zum Glück ergreift unser Notarzt Initiative: "Das ist sehr nett von Ihnen, und ich kann auch kaum widerstehen. Aber ich fürchte, wir werden nicht in den Genuss kommen." Das kann die ältere Dame gar nicht verstehen. Das verrät uns ihr fragender Blick. Wieso denn nicht? Hatte sie uns doch gerade eben dazu eingeladen. "Und auch Sie müssen sich leider noch etwas gedulden – wir müssen Sie zur Sicherheit in die Klinik bringen." "Tut uns leid, vorher frühstücken geht nicht." "Nein, leider auch nicht, wenn der Kaffee gerade fertig ist."
rettungsengel am 16. November 14
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